Thomas D. Schlee


Biographisches...

Thomas D. Schlee ( * 1958)


Wo du nicht bist,
dort ist die Avantgarde

»Der Baum des Heils«

14. November 1994
Neue Musik führt ein Schattendasein. Während sich das angeblich »moderne« Wien mit amerikanischem Minimalismus beschäftigt, finden wirklich bemerkenswerte Erstaufführungen weitab vom Zentrum statt, zum Beispiel in Vorstadtkirchen.

Es ist schon so: Die zentralen Musikschaltstellen sind zum Beispiel damit beschäftigt, sich ihrer Chöre zu entledigen; oder sie suggerieren Fortschrittlichkeit mit der festspielverbrämten Präsentation von Stücken, die zum Teil fast 100 Jahre alt sind.

Auch solche Pflege der Traditionen, zumal der nicht aufgearbeiteten, nicht ins Bewußtsein vorgedrungenen, ist wichtig. Eine Standortbestimmung der zeitgenössischen Musik findet demgegenüber freilich immer seltener statt.

In St. Anna Baumgarten (Wien XIV.), jenseits jeglicher Publizität also, sang jüngst ein phänomenales Vokalensemble namens »cappella nova« aus Graz unter Otto Kargl subtil Leonhard Lechners barocke »Sprüche von Leben und Tod«, aber auch Thomas Daniel Schlees vor kurzem uraufgeführtes Oratorium »Der Baum des Heils«, nach kontemplativen Texten zur Kreuzanbetung von Reinhard Deutsch.

Und das eben war ein Hörerlebnis von jener Art, die glauben macht, es sei noch nicht zu Ende mit der musikalischen Phantasie, es sei noch möglich, mit durchaus zeitgemäßen Mitteln harmonische Abenteuer zu wagen, die den Hörer nicht ratlos zurücklassen, sondern kraft spürbarer innerer Logik und Konsequenz in neue Klangwelten entführen.

Wie Lechner um 1600 mit melodischen und harmonischen Rückungen den Textgehalt sensibel sinnfällig werden läßt, gelingt es fast 400 Jahre danach Schlee, das musikalische Vokabular des zu Ende gehenden Jahrhunderts nach neuen Kombinationsmöglichkeiten abzuklopfen, ohne es aber in sinnlose Silben zu zerlegen.

Da kann ein Dur-Dreiklang atemberaubende Wirkung machen, wenn er wie in Schlees »Halleluja«-Harmonien in eine vielfach aufgefächerte Farbpalette eingebettet ist. Er kann Orientierungsfunktion im harmonischen Kontinuum einnehmen, oder auch freischwebender Farbeffekt sein, weil ihm die Aufgabe des Koordinatensystems von anderen kompositorischen Parametern abgenommen wird. Niemals aber verliert der Hörer den Boden unter den Füßen, er kann sich mit dem Komponisten und seinen fulminanten Interpreten (mit Waltraud Hioffman, Alt, Dejan Dacic, Violine, Robert Finster, Englischhorn und Herbert Bolteraurer, Orgel) an die Entdek kung des religiösen Textes machen und wird dabei neben allen musikalischen Entdeckungen auch - Erbauung finden.

Für eine knappe Stunde ist da zwischen kraftvollen, exzessiven Schmerzensgesten einer »Pietà« und den schwebend-meditativen, expressiv von markerschütternd simplen Schlaggeräuschen unterbrochenen eines »Offertoriums« die Welt zwischen Komponist und Hörer wieder einmal in Ordnung. Das müßte, das könnte auch öfter so sein, verstünden Veranstalter ihren Beruf als Berufung, widmeten sie ihre Energien der Musik und nicht dem Götzendienst an deren Begleitumständen.

↑DA CAPO